Gothic #31, 2000

Selbstanalyse!

Die italienische Dark-Wave-Formation Kirlian Camera gehört mit Sicherheit zu den absoluten Kultgruppen des Genres. "Vordenker" Angelo Bergamini (Programmierung, Instrumente, Gesang), Elena Fossi (Gesang) und Emilia Lo Iacono (Gesang) bereichern mit ihrer Arbeit schon seit Jahren die schwarze Szene. Das neue, grandiose Kirlian Camera-Album "Still Air" ist einer der dunklen Höhepunkte des Jahres. Zur Begrüßung ist "The Unreachable One" bestens geeignet. Fast schon klaustrophobisch monoton bohren sich schleppende Synthierhythmen in die Gehörgänge. Dunkle Flächensounds verleihen dem Song eine unheimliche Atmosphäre. Nur der engelsgleiche Gesang von Elena Fossi bewahrt den Zuhörer vor Angstzuständen. In die gleiche Richtung bewegen sich fast alle Tracks. Besonders erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang noch das deutschsprachige "Unaufmerksame Leute" und "The Hidden Voices". Richtig tanzbar geht es eigentlich nur bei "No Quarter" zu. Strighte Electrobeats peitschen den Bewegungswilligen unaufhörlich nach vorne. Bei so viel Klasse war ein Gespräch mit Angelo Bergamini unerläßlich. In dessen Verlauf gehen wir selbstverständlich auch einigen Vorwürfen, mit denen die Band immer wieder konfrontiert wird nach.

Gothic: Die neue CD hört auf den schönen Namen "Still Air". Was verbirgt sich hinter dieser Bezeichnung?
Angelo Bergamini: Das Konzept, auf welchem "Still Air" basiert, läßt sich am besten anhand einer Metapher erklären. Stellt euch einen Fluß vor, der durch einen dunklen Wald fließt. In dessen Verlauf wird das Wasser wie der Wald immer ruhiger. Nach einer Weile stellt man fest, daß eine unheimliche Stille herrscht. Es ist etwas in der Luft, daß selbst die Vögel veranlaßt nicht mehr zu singen. Jetzt stellt euch vor, ihr seid nicht diejenigen, die vor dem "Unheimlichen" Angst haben, sondern das Unbekannte selbst. Als letztes sollte man sich vorstellen, man ist beides. Das ist nur eine Umschreibung für die eigene Persönlichkeit. Aus der Stille schleichen sich die unterschiedlichsten Erinnerungen in den Geist. Vielleicht passiert etwas schreckliches. Du rennst nicht weg, weil du vielleicht selbst das Unglück bist. Niemand kann dich vor dir selbser retten. Genausowenig kann jemand anderes Leute vor dir retten. So muß man alleine in diesem Alptraum leben. "Still Air" handelt hauptsächlich von dem Gefühl der Einsamkeit.

Gothic: Einsamkeit musikalisch umzusetzen ist euch aus meiner Sicht perfekt gelungen. Ich denke "Still Air" ist Dark-Wave in Reinkultur und weitaus düsterer als eure letzten Veröffentlichungen. Kannst du dich meiner Meinung anschließen?
Angelo Bergamini: Es ist wirklich unsere dunkelste Platte. Allerdings sollte man ihr kein Etikett wie Dark Wave verpassen, weil ich nicht glaube, daß sich das Album wie ein "Wave-Werk" anhört. Dieses mal gibt es irgendwie keinen Stil, mit dem unsere "Arbeit" verglichen werden könnte. Wir wissen selber nicht, ist es nun schön, schrecklich oder einfach nur langweilig. Ich weiß nur, am Anfang waren wir selbst sehr überrascht, was wir da erschaffen haben. Jeder andere Kommentar ist überflüssig.

Gothic: Jedenfalls ist "Still Air" alles andere als langweilig. Besonders die Songtexte scheinen mir sehr interessant und aus dem Leben gegriffenn zu sein. Wie wichtig sind die Texte für dich.
Angelo Bergamini: In der Vergangenheit war der lyrische Aspekt nicht besonders wichtig für uns. Ich habe aber festgestellt, daß sich meine Haltung diesbezüglich geändert hat. Heute sind unsere Texte von ganz anderer Beschaffenheit. Sie erzählen sogar etwas aus meinem Leben. Eigentlich war ich immer daran interessiert, Geschichten zu erzählen, welche mehr oder weniger meiner Phantasie entsprangen. Heute schreibe ich in einer direkteren Sprache, die auch eine Prise Humor enthält. Kirlian Camera-Texte sind jetzt das Resultat einer wahren und schmerzhaften Selbstanalyse. Natürlich sind das nur Worte, die in einem Song vorkommen. Ich bin kein Schriftsteller oder Poet. Aber alle Worte kommen von Herzen und sind sehr wichtig.

Gothic: Ich finde, ein gutes Beispiel dafür ist "Unaufmerksame Leute". Wer sind für dich unaufmerksame Leute?
Angelo Bergamini: Solche Menschen finden sich überall. Das sind Leute, welche vorgeben, dich zu lieben. Vielleicht sogar mit einer Art animalischer Zuneigung. Menschen sind in der Regel unfähig, jemanden zu lieben, obwohl sie es sagen. Deshalb habe ich den Ausdruck "Animal-Like Love" verwendet. Viele Menschen sind einfach nicht in der Lage, sich auf irgendetwas oder irgendjemanden zu konzentrieren, sie richten lieber über andere. Der Song ist diesem Teil unserer Rasse gewidmet. Ich versuche ebenfalls eine bestimmte Person anzusprechen, welche für ihre versteckten Verbrechen zahlen wird. Es ist süß und negativ zugleich. Ein verzweifeltes goodbye. Traurig Einsamkeit. Man kommt sich vor, als ob man ein schwarzes Licht an den Plätzen sucht, an denen man in seinem Leben schon gewohnt hat.

Gothic: Unaufmerksame Zeitgenossen gibt es wirklich überall. Wie wichtigist es für dich, daß innerhalb von Kirlian Camera, der Umgang miteinander gut ist?
Angelo Bergamini: Die menschliche Ebene ist mir sehr wichtig. Unehrlichkeit und übertriebene Geltungssucht sind die schlimmsten Eigenschaften, die Menschen haben können. Für solche Menschen ist innerhalb der Band kein Platz. Deshalb habe ich in der Vergangenheit einige Leute aus der Band geschmissen. Mit Emilia und Elena verstehe ich mich glänzend. Ich hoffe, daß wir noch lange zusammenarbeiten werden.

Gothic: Gibt es noch andere Dinge, welche du verabscheust?
Angelo Bergamini: Ungerechtigkeit und die Todesstrafe.

Gothic: Langsam bewegen wir uns jetzt in die politische Richtung. Als aufmerksamer Beobachter der Szene konnte man immer wieder feststellen, daß ihr mit Faschismusvorwürfen konfrontiert wurdet. Wie würde denn ein Staat und eine Regierungsform aussehen, wenn du diese selbst bestimmen könntest?
Angelo Bergamini: Es gibt keine Hoffnung für die Menschheit. Ich habe deshalb keine genaue Vorstellung. Ich weiß nur, daß die USA immer mehr zum Unterdrücker werden. Amerikanismus ist überall. Vielleicht glaube ich an eine Welt, die nur aus einer einzigen Nation mit einer einzigen Sprache besteht. Es gibt ein hohes Maß an Regeln, so daß es keine Kriminalität, Rassismus oder Intoleranz gibt. Außerdem bin ich ein großer Fan von Gerechtigkeit. Alle Menschen sollten gleich und ohne Vorurteile behandelt werden. Eine große Hülle für viele Menschen um mich herum. Utopisch? Wer weiß?

Gothic: Eine gerechte Welt wäre eine schöne Vorstellung. Auf der letzten Tour gab es einige Probleme mit der Vorgruppe Attrition und weitere Faschismusvorwürfe. Kannst du uns dazu etwas erzählen?
Angelo Bergamini: Ich weiß nicht, ob Attrition oder einige Besucher denken, wir seien Faschisten. Das ist mit, ehrlich gesagt, auch ziemlich egal. Ich denke, Attrition sind sehr offen und keine Ignoranten. Wahr ist jedenfalls, daß sie nach einigen Konzerten aufgegeben haben. Unsere Beziehung war freundlich und angenehm. Vielleicht haben sie unser Publikum oder zumindest einen Teil davon nicht gemocht. Unser Publikum setzt sich aus Leuten unterschiedlichster Gesinnung zusammen, die uns ohne Vorurteile begegnen. Kirlian Camera-Konzerte sind so etwas wie eine "Free Zone". Wir möchten keine Unruhe auslösen und keien Schwierigkeiten haben. Wir möchten einfach nur eine Show abliefern. Wir werden auch in Zukunft keine wie auch immer geartete politischen Aussagen machen, auch wenn einige Leute immer noch versuchen, das Gegenteil zu beweisen. Arme Idioten!

Gothic: Dann hoffen wir, daß bei der nächsten Tour alles normal läuft. Gibt es sonst noch Projekte für die Zukunft.?
Angelo Bergamini: Im Dezember wird es ein Buch über Kirlian Camera geben. Enthalten wird auch eine CD sein, auf der sich Remixe von :Wumpscut:, Limbo, Sixth Comm und einigen anderen befinden. Das ist für dieses Jahr dann alles.

  • Markus Fürgut