Glasnost Wave Magazine, 09-10/1993

In der Gothic Szene, wo italienische Bands im letzten Jahr für angenehme Überraschung gesorgt hatten, wurden auch KIRLIAN CAMERA schnell zum Geheimtip. Langsam wurden Labels und Agenturen auf die außergewöhnliche Band aufmerksam. Doch Angelo Bergamini, spiritueller Kopf der Gruppe, tut sich als gebranntes Kind schwer, irgendeiner Plattenfirma noch Vertrauen entgegen zu bringen.
Zur Anfangszeit seiner Karriere stand seine Mitgliedschaft bei HIPNOSIS. Deren technoid-synthetische, an den elektronischen Ambiente Sound von Jean Michel Jarre angelehnte Dancefloor Nummer "Pulstar" war 1983 ein Welthit gewesen, und der Nachfolger hieß "Oxygene". Schon damals war die Verbindung zwischen innovativem Underground und Kommerzialität nur mit einem schwierigen Balanceakt zu passieren. KIRLIAN CAMERA gingen betrügerischen Plattenfirmen auf den Leim - ZYX, EMI, Virgin - sie machten die Band mit ihren fiesen Methoden tot.
Nach der in Deutschland sogar vergoldeten "Pulstar" Platte war Angelo Bergamini in den tiefsten Abgrund gestürzt und mußte wieder ganz von vorne anfangen. So veröffentlichte er ab 1988 die KIRLIAN CAMERA Platten selbst unter dem Label "Heaven's Gate". Statt 250000 betrugen die Auflagen gerade noch 250! Umso schneller gerieten die Veröffentlichungen als Raritäten unter den Preishammer auf Sammlerbörsen. 1992 brachten KIRLIAN CAMERA die überaus düstere CD "Todesengel. The Fall Of Life" heraus, gefolgt von der Mini-CD "Schmerz". Im Frühsommer 1993 gelang es KIRLIAN CAMERA zum ersten mal nach 13 Jahren ihres Bestehens, eine kleine Tournee zu absolvieren und einige deutsche Städte zu besuchen. Zu Deutschland hat Angelo ein ganz besonderes Verhältnis:
"Ich liebe das deutsche Publikum, es geschah hier das erste mal, daß ich mein Publikum mochte", gesteht er.
Seine Affinität zu Zentraleuropa drückt sich in zahlreichen deutschen Songtiteln aus. Dahinter verbergen sich teils auch deutsche Texte, die sich um seltsame Geschichtsmonumente ranken. "Der tote Liebknecht", "Heldenplatz" oder "U-Bahn V.2 Heiligenstadt" kreieren einen eigentümlichen Mystizismus. Mit den düsteren Klangwolken ihrer fantastischen Coverversion von Ultravox' "Vienna" eröffnen KIRLIAN CAMERA ein tief beeindruckendes Sinneserlebnis, was auch bei der live Darbietung vor frenetischer Intensität fast zu explodieren droht. Die in Trauer ertrinkenden Violinen weinen über den verloren aus schwarzen Abgründen pochenden Schlägen bittersüße Tränen. Gothic-Romantic Songs wie "Endless Rain", wo Emilia Lo Jacono, zweites Mitglied der Band, zu sanften Elektronikharmonien ihren Engelsgesang erhebt, wechseln mit sphärischen Roboterstimmen. KIRLIAN CAMERA zelebrieren ein Ritual, in dem folkige, dem Stil des World Serpent Clans orientierte Elemente mit den avantgardistischen Elektronikexperimenten zusammenfließen. Verschiedensten Coverversionen durchziehen das Programm. Ein spezielles Verhältnis hat Angelo zu den Bands, deren Stücke er covert, nicht. Einzig mit Douglas P. unterhält er eine Brieffreundschaft.
"Er ist ein sehr netter Mensch", bemerkt Angelo.
Das akustisch instrumentierte "Raindance" weist unzweideutig in diese Richtung.
"A Nothing Life" von Sixth Comm spielen KIRLIAN CAMERA hingabevoll und mit überzeugender Ehrlichkeit, denn Angelo mag das "Content With Blood" Album besonders gerne. Stilistische Parallelen sind auch in einigen von wilden magischen Schamanentänzen inspirierten Stücken von KIRLIAN CAMERA zu beobachten. Angelo verweist auf sein Interesse für keltische, vornehmlich bretonische und irische, sowie russische und finnische altertümliche Volksmusik. Detaillierte Antworten über seine Beziehung zu der von alten ausgelöschten europäischen Religionen hervorgebrachten Rhythmik gibt er nicht.
Die zehnminütige fast instrumental gehaltene Version von Queen's Teenager-Mitstampf-Hymne "We Will Rock You" entsprang seiner Faszination von dem unglaublich starken Rhythmus.
Musik ist für ihn einfach ein inneres Bedürfnis, ein Drang. Wenn andere Menschen, denen er mit seiner Musik in irgendeiner Form begegnet, daran Freude finden, so erfüllt es ihn mit Glück.
Angelo, geboren 1958 und wohnhaft in der norditalienischen Stadt Parma, ist ein sehr schwieriger Interviewpartner. Seine Konzentrationsfähigkeit auf Fragen - zumindest in der für ihn wohl ungewohnt angespannten Situation während einer Tour - gering. Emilia und Simon Balestrazzi, der ebenfalls fest in der Band für Percussionarbeiten zuständig ist, beobachten den Verlauf des Gesprächs genau und versuchen die Fragen des Interviewers mit gezielten Interventionen um die wunden Punkte in Angelos Seele herumzumanövrieren.
Angelo ist psychisch krank, und er identifiziert sich vollständig mit seinem Zustand. In jämmerlichem Ton gleiten die Worte schmerzhaft über die Lippen gepreßt langsam aus seinem Mund.


Angelo: "Parma ist die Erklärung für unsere Musik! Pures Leiden!"
GLASNOST: Leidest du?
ANGELO: "JA!"
Eine definitive und sichere Antwort.
Angelo: "Wir müssen weiterleben und überleben, damit wir in den Himmel gelangen können."
GLASNOST: Glaubst du wirklich, daß du nach dem Tod in den Himmel kommst, wenn du ein guter Junge gewesen bist?
Angelo: "Das ist ein Geheimnis! Ich glaube an ein bessres Leben nach diesem Leben. Denn dieses Leben hier und jetzt, das ist die reine Hölle!"
GLASNOST: Was ist der Hauptgrund dafür, daß du so krank bist und das leben als ein solches Leiden empfindest?
Angelo: "Es war ein schwerer Schock im Jahr 1975. Ich habe einen Teil meines Gedächtnis verloren. Manchmal bekomme ich panische Angstanfälle. Ich war lange in einer psychiatrischen Klinik..."

Hier gerät das Interview in eine kritische Phase. Angelo ist ein plötzliches inneres Beben anzumerken, und Emilia und Simon signalisieren, daß sofort das Thema gewechselt werden sollte. Viel ist es nicht, was aus Angelo herauszubekommen ist, bevor man sich nicht vorher intensiv mit ihm beschäftigt und ein persönliches Vertrauensverhältnis aufgebaut hat. Es bleibt bei einer Höflichkeit, die sich mit kindlicher Freude über das ihm entgegengebrachte Interesse vermischt.

Was denkt ein Mensch, dessen unerschütterlicher Glaube an die Liebe und an das Gute ihm seine ganze Kraft zur Hoffnung gibt, um sein Leben bis zur Erlösung zu ertragen? Was denkt er über die Tatsache, daß sich unter das praktisch vollkommen schwarze Publikum, was sich in Deutschland vor KIRLIAN CAMERA versammelt, auch Leute mischen, die an das Böse glauben, sich vielleicht sogar als Satanisten bezeichnen?

Angelo: "Es ist wichtig, daß diese Leute zusammenkommen können und die Möglichkeit bekommen, sich zu treffen. Dann besteht die Chance, daß irgendwem, irgendeiner Band vielleicht, es gelingt, das Böse auszutreiben. Das Böse ist schlecht, das Böse ist Krankheit. Ich hoffe, daß ich ein ganz kleines bißchen helfen kann."

Angelo Bergaminis Seelenqual ist echt, die seines Publikums hingegen ist meistens nur gespielt.

  • Oliver Köble

  • Taken from: http://www.glasnost.com